Im Jahr 2022 lag die Zahl der meldepflichtigen Arbeitsunfälle bei 787.412. Davon endeten 423 tödlich. Ein Unfallschwerpunkt ist der Absturz von baulichen Anlagen in der Höhe mit 37.504 Arbeitsunfällen. Die regelgerechte Umsetzung der Rangfolge der Schutzmaßnahmen trägt maßgeblich zur Sicherheit aller Beschäftigten bei. Bei Absturzgefahr haben Schutzvorrichtungen und Auffangeinrichtungen Vorrang. Lassen sich diese nicht einrichten, müssen persönliche Schutzausrüstungen (PSA) gegen Absturz benutzt werden. Tanja Kopp, kommissarische Leiterin der Abteilung Sicherheit der BG BAU, erläutert, was zu beachten ist, um sicher mit PSA in der Höhe zu arbeiten.
Laut Arbeitsschutzgesetz sind Unternehmen verpflichtet, vor Beginn der Tätigkeiten durch eine Gefährdungsbeurteilung alle Gefahren zu identifizieren und zu beurteilen, ob und wenn ja, welche Schutzmaßnahmen ergriffen werden müssen. Individuelle Schutzmaßnahmen sind hierbei nachrangig zu anderen Maßnahmen. Somit ist zuerst zu prüfen, ob eine Absturzsicherung (z. B. Umwehrung) Personen an Absturzkanten vor einer Absturzgefahr schützen kann. Wenn diese aus arbeitstechnischen Gründen ausgeschlossen wird, kann eine Auffangeinrichtung (z. B. Schutznetz) zum Einsatz kommen. Erst wenn auch diese nicht eingerichtet werden kann, darf PSA gegen Absturz (PSAgA) als individuelle Schutzmaßnahme verwenden werden.
Rückhalte- und Auffangsysteme
Unter Berücksichtigung des Arbeitsplatzes und der Umgebungsbedingungen muss die geeignete PSAgA festgelegt werden. PSAgA ist ein Teilbereich der persönlichen Absturzschutzsysteme. Diese bewahren Personen vor dem Abrutschen oder Abstürzen oder fangen eine abstürzende Personen sicher auf und gewährleisten eine sichere Rettung. Zu PSAgA gehören Arbeitsplatzpositionierungssysteme, Rückhaltesysteme und Auffangsysteme.
1. Arbeitsplatzpositionierungssystem
Das System besteht aus einer Anschlageinrichtung, einem Verbindungsmittel mit Längeneinstellvorrichtung und einem Haltegurt oder alternativ einem Auffanggurt. Der ergonomischen Gestaltung der Bestandteile kommt eine besondere Bedeutung zu, da die Person unter Umständen über einen längeren Zeitraum in einer Position gehalten werden muss.
2. Rückhaltesystem
Das System besteht aus einer Anschlageinrichtung, einem Verbindungsmittel und einem Haltegurt bzw. Auffanggurt. Ein Absturz wird verhindert, indem ein Verbindungsmittel verwendet wird, das kürzer ist als der Abstand von der Anschlageinrichtung zur Absturzkante.
3. Auffangsystem
Das System besteht aus einer Anschlageinrichtung, einem Auffanggurt und einem geeigneten Bestandteil, um eine Auffangfunktion zu gewährleisten. Das wären
- ein Falldämpfer nach DIN EN 355, der mit einem Verbindungsmittel nach DIN EN 354 kombiniert werden darf
- ein Höhensicherungsgerät nach DIN EN 360
- ein mitlaufendes Auffanggerät einschließlich einer Führung nach DIN EN 353-1 oder
DIN EN 353-2.
Diese Teile sind gebrauchsfertig und dürfen nicht mit zusätzlichen energieabsorbierenden Bestandteilen verwendet werden.
Rückhaltesysteme haben den Vorteil, dass es nicht zu einem Absturz kommen kann. Bei diesen Systemen ist auch kein Rettungskonzept erforderlich. Dass das System sicher benutzt werden kann, hängt u. a. davon ab, welche Art der Anschlageinrichtung gewählt bzw. vorhanden ist. Die schlechteste Möglichkeit sind Einzelanschlagpunkte, denn hier muss sich der Benutzer des Rückhaltesystems mit einem Y-Verbindungsmittel von Anschlageinrichtung zu Anschlageinrichtung bewegen. Das erfordert Zeit und eine hohe Disziplin bei der Benutzung.
Am Einstiegspunkt verbinden
Eine dauerhaft befestigte Schiene oder ein Seil mit einem mobilen Anschlagpunkt, der auch über die Befestigungspunkte hinweg läuft, ist die bessere Lösung, denn die Person kann sich mit dem System am Einstiegspunkt verbinden und dann permanent gesichert über die Fläche bewegen. Aber nicht nur die Art der Anschlageinrichtung ist wichtig, sondern auch ihre Entfernung zur Absturzkante in Kombination der Länge des Verbindungsmittels, der Körpergröße und einer stehenden oder knieenden Position der Person an der Absturzkante. Kommt z. B. ein längeneinstellbares Verbindungsmittel zum Einsatz, dann ist es je nach Situation ggf. von der benutzenden Person selbst abhängig, dass die korrekte maximal zulässige Länge eingestellt wird. Sollte das Seil an einer Arbeitsposition nicht kurz genug eingestellt sein, kann es zu einem Absturz in das System kommen. Da dieses jedoch kein energieabsorbierendes Element enthält, kann das tödlich enden.
Was ist bei der Auswahl eines Auffangsystems zu beachten? Beim Einsatz von Auffangsystemen sind viele Faktoren zu beachten und umzusetzen, damit das System im Falle eines Absturzes eine Person sicher auffangen kann. Zur Gewährleistung der sicheren Funktion eines Auffangsystems ist neben ausreichend tragfähigen und geprüften Anschlageinrichtungen auch eine ausreichende lichte Höhe unterhalb des Standplatzes erforderlich. Genaue Angaben zum erforderlichen Freiraum unterhalb der Füße sind in der entsprechenden Gebrauchsanleitung des jeweiligen Herstellers aufgeführt.
Ein Auffangsystem
- verhindert nicht einen freien Fall
- erlaubt es, Bereiche oder Positionen
- zu erreichen, in denen die Gefahr eines Absturzes besteht. Falls es zum freien Fall kommt, wird die Person aufgefangen.
- begrenzt die Fangstoßkraft auf höchstens 6 kN
- begrenzt die Fallstrecke
- hält die Person nach dem Auffangen eines Sturzes in einer hängenden Position, in der sie, falls erforderlich, auf Hilfe warten kann
Da die benutzende Person tatsächlich abstürzen könnte, ist auch immer ein Rettungskonzept auszuarbeiten und das erforderliche Rettungsequipment am Einsatzort vorzuhalten. Wurde kein Rettungskonzept vor Beginn der Arbeiten festgelegt, besteht für die aufgefangenen Person die Gefahr eines orthostatischen Schocks, auch Hängetrauma genannt. Symptome sind z. B. Blässe, Kurzatmigkeit, Sehstörungen oder Schwindel. Das Hängetrauma ist ein medizinischer Notfall. Daher ist umgehend der Notruf abzusetzen. Weitere Informationen zum Retten enthält die DGUV Regel 112-199 „Benutzung von persönlichen Absturzschutzausrüstungen zum Retten“.
Da es sich bei der PSAgA um eine PSA handelt, die gegen tödliche Gefahren oder bleibende Gesundheitsschäden schützen sollen, hat der Arbeitgeber seinen Beschäftigten die nach § 3 der PSA-Benutzungsverordnung bereitzuhaltende Benutzungsinformation im Rahmen von Unterweisungen mit Übungen zu vermitteln. Die Unterweisung ist vor der ersten Benutzung und nach Bedarf, mindestens jedoch alle zwölf Monate, durchzuführen. Sie umfasst unter anderem
- die besonderen Anforderungen der einzelnen Ausrüstung
- die Inhalte der Betriebsanweisung
- die bestimmungsgemäße Benutzung
- das richtige Anschlagen
- die ordnungsgemäße Aufbewahrung
- das Erkennen von Schäden.
Nach § 12 Arbeitsschutzgesetz muss der Arbeitgeber die Beschäftigten über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit unterweisen. Fehlt ihm die fachliche Kompetenz, kann er nach § 13 (2) Arbeitsschutzgesetz eine fachkundige Personen beauftragen. Geeignete Maßstäbe an die Anforderungen an Unterweisende sowie an Art und Inhalt von Unterweisungen liefert der DGUV Grundsatz 312-001 „Anforderungen an Ausbildende und Ausbildungsstätten zur Durchführung von Unterweisungen mit praktischen Übungen bei Benutzung von persönlichen Schutzausrüstungen gegen Absturz und Rettungsausrüstungen“.
Tanja Kopp
…ist Leiterin des Sachgebiets „Persönliche Schutzausrüstungen gegen Absturz und Rettungsausrüstungen“ im Fachbereich Persönliche Schutzausrüstungen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) sowie kommissarische Leiterin der Abteilung
Sicherheit der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU).