Wenn ein Auffanggurt einen Absturz erfolgreich auffängt, ist die Gefahr für den Abgestürzten noch längst nicht vorbei. Ein anschließendes Hängetrauma kann potenziell ebenso lebensbedrohlich sein wie ein Absturz selbst. Wer ein solches Hängetrauma verhindern will, weiß Carlos Cruz, Leiter Strategic Business Unit Fall Protection bei Zarges, muss bei der Lösungswahl einiges beachten.
Arbeitsunfälle sind auf deutschen Baustellen leider keine Seltenheit. Laut der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) wurden 2023 in Deutschland 16 Prozent der tödlichen und 30.000 der meldepflichtigen Arbeitsunfälle durch einen Absturz verursacht. Diese Zahl zeigt: beim Arbeitsschutz in der Höhe bleibt noch vieles zu verbessern. Denn auch wenn ein Auffanggurt den Sturz abfängt, sorgen unzureichende Lösungen für ein potenziell gefährliches Hängetrauma.
Ein Hängetrauma entsteht dadurch, dass eine Person nach einem Sturz bewegungslos und für längere Zeit im Auffanggurt hängt. Durch die aufrechte Position und die einschneidenden Gurte versackt dabei das Blut in den Beinen. Wichtige Organe, vor allem das Gehirn, werden nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Schwindel, Übelkeit und Verwirrtheit sind oft die ersten Symptome. Untersuchungen haben gezeigt, dass etwa die Hälfte der Patienten bereits nach fünf Minuten Symptome entwickelt, nach zehn Minuten sind es fast 95 Prozent.
Giftstoffe können freigesetzt werden
Unbehandelt kann dieser Zustand zu einem Kreislaufzusammenbruch und schließlich zum Tod führen. Auch nach der Rettung ist eine schadensfreie Rehabilitation nicht gewährleistet. Denn wenn der Körper plötzlich entlastet wird, kann das eingesackte Blut Giftstoffe freisetzen. Um ein solch gefährliches Hängetrauma zu verhindern, braucht es vor allem das richtige Absturzsicherungssystem und speziell zu diesem Zweck entwickelte Auffanggurte.
Bei der Beschaffung von persönlichen Absturzsicherungssystemen für industrielle Anwendungen können Unternehmen sich dabei in erster Linie an den Vorschriften, Normen und Standards orientieren, die den Arbeitsschutz regulieren. Produkte müssen etwa gemäß PSA-Verordnung EU 2016/425 und den einschlägigen Normen wie EN 361 bei Auffanggurten, EN 362 bei Karabinern, EN 355 bei Verbindungsmitteln, EN 354 bei Falldämpfern und EN 360 bei Höhensicherungsgeräten zertifiziert sein. Auffanggurte müssen zudem den Normen der EN 361 hinsichtlich Festigkeit, Tragfähigkeit und Widerstandsfähigkeit gegen Umwelteinflüsse gerecht werden.
Auch die reguläre Prüfung der Ausrüstung ist wichtig, um die richtige Funktionsweise zu garantieren. Um diesen Prozess zu unterstützen, ist der Einsatz von intelligenter PSA empfehlenswert. So können etwa auf NFC-Tags im Gurt digitale Informationen über den Gurtzustand und anstehende Prüfungszeiten abgespeichert werden. Über ein Web Alert System lassen sich zudem poröse Stellen und Verschleißmerkmale rechtzeitig aufspüren. Zu diesem Zweck werden rote Fasern im Gurtmaterial eingepflegt, die bei hinreichendem Verschleiß sichtbar werden und signalisieren, dass der Gurt ausgetauscht werden muss.
Fehler in der Handhabung
Weiterhin ist die Anwenderfreundlichkeit des Systems, insbesondere des Auffanggurts, ein oft unterschätzter Faktor. Da in der Industrie Arbeiten in der Höhe meist periodisch, aber nicht häufig durchgeführt werden, können trotz Schulungen Fehler in der Handhabung auftreten. Farbliche Kennzeichnungen unterschiedlicher Größen können beispielsweise die Gurtauswahl erleichtern. Zudem ist die flexible Anpassung an unterschiedliche Körpergrößen und -formen mithilfe eines bedienfreundlichen Verstellsystems hilfreich. Auch die optimale Polsterung und geringes Gewicht sind wichtig, um uneingeschränktes, sicheres Arbeiten zu ermöglichen. Denn nur wenn die Schutzausrüstung passt und nicht stört, kann sich der Anwender auf die sichere Ausführung der Arbeiten in der Höhe konzentrieren.
Unabhängig davon, wie anwenderfreundlich ein System auch ist, sollten Unternehmen für ausreichende Schulungsmöglichkeiten für Mitarbeiter sorgen. Die beste Ausrüstung nützt wenig, wenn sie nicht richtig benutzt wird. Das Risiko eines Hängetraumas ist vor allem bei Anwendern erhöht, die die Auffangsysteme nicht regelmäßig nutzen, da sie möglicherweise nicht mit den entsprechenden Techniken vertraut sind.
Die Wahl des richtigen Auffanggurtes ist entscheidend, um das Risiko zu minimieren. Hierfür setzen viele Unternehmen auf Trauma- beziehungsweise Prusik-Schlingen. Diese speziellen Hilfsmittel sollen den Betroffenen helfen, die Beine anzuheben und so den Blutfluss zu verbessern. Doch in der Praxis zeigen sich laut Cruz gravierende Risiken dieser Lösung. Erstens sind diese Schlingen immer separat mitzuführen und müssen im Ernstfall schnell griffbereit sein. Zweitens erfordert die richtige Handhabung regelmäßiges Training. Weniger geschulte Arbeiter haben Schwierigkeiten sie korrekt einzusetzen. Zudem haben Arbeiter die Traumaschlinge oft nicht zur Hand oder vergessen sie in Stresssituation schlichtweg.
Druck von den Beinschlaufen nehmen
Aus den genannten Gründen hat Zarges bei der Entwicklung des Auffanggurtes den „Chair in the Air“ als anwenderfreundliche Lösung entwickelt. Dieser zielt darauf ab, den Druck von den Beinschlaufen zu nehmen und damit das Risiko eines Hängetraumas zu minimieren.
Im Gegensatz zu vielen anderen Auffanggurten ist das Zarges Auffangsystem fest im Auffanggurt integriert und deshalb jederzeit einsatzbereit. Nach einem Sturz kann sich der Arbeiter sofort in eine sitzende Position bringen. Dadurch werden die Beine entlastet und die Blutzirkulation bleibt erhalten. Insbesondere die Lage der Ankerpunkte ist entscheidend für den Komfort und die Sicherheit der Aufhängung.
Untersuchungen haben gezeigt, dass die Körperhaltung beim Hängen von der Position dieser Punkte beeinflusst wird. Liegt der Ankerpunkt etwa auf der Rückseite in Höhe der Schulterblätter, kann dies zu einer erhöhten Körperbelastung und zu einer Verschlechterung der Blutzirkulation führen. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass Absturzsicherungssysteme so konstruiert sind, dass sie dem Benutzer eine stabilere und weniger belastende Position bieten.
Das Hängetrauma darf als Risiko nicht unterschätzt werden. Es stellt eine ernsthafte Gefahr dar. Unternehmen sollten laut Cruz bei der Auswahl ihrer Lösungen deshalb darauf achten, dass der Schutz gegen ein Hängetrauma bereits integriert ist und dementsprechende Auffanggurte für ihre Mitarbeiter auswählen. Auf diese Weise kann sich der Verunfallte bei einem aufgefangenen Sturz schnell in eine stabile Position bringen, ohne dass er zusätzliche Ausrüstung benötigt. Denn Absturzsicherungssysteme müssen nicht nur zuverlässig, sondern auch benutzerfreundlich sein. Nur wenn es den Arbeitern keine Umstände bereitet, die Ausrüstung zu nutzen, kann sie ihre volle Schutzwirkung entfalten. Umgekehrt gilt: Wenn die Ausrüstung in der Handhabe unpraktisch designt ist, bleibt selbst die beste Lösung wirkungslos.
Carlos Cruz
… ist Leiter Strategic Business Unit Fall Protection.