Laut der Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse BG ETEM) lag die Anzahl an Stromunfällen im Jahr 2019 in Deutschland bei 4035, davon endeten glücklicherweise nur fünf tödlich. Auch wenn diese Zahlen weit entfernt sind von denen vergangener Jahre – 1970 gab es 256 Todesopfer durch Stromunfälle in Deutschland – die Anzahl an Stromunfällen ist leicht ansteigend. Damit diese möglichst glimpflich enden, entwickelt die Firma Adresys „Angel“.
„Angel“ ist ein System, das im Elektrobereich Notfälle wie Elektrounfälle oder auch Stürze erkennt und dann agiert, wie Nicole Burtscher sagt. Sie ist bei dem österreichischen Unternehmen, einer Tochtergesellschaft des Omicron-Konzerns, für Marketing und Vertrieb zuständig. „Bei ,Angel‘ handelt es sich um ein Komplettsystem. Es ist ein Smart-Textile-Shirt mit integrierten Elektroden, einer Elektronik und dazugehöriger Notfall-App“, sagt sie.
Schneller Hilferuf bei einem Elektrounfall
Nicole Burtscher erklärt, wie das System funktioniert: „Die Elektroden am Oberarm messen einen Spannungsabfall zwischen zwei Messpunkten. Die elektronische Einheit Genius, die am Oberarm angebracht ist, verarbeitet die eingehende Signale und kommuniziert über akustische und optische Signale mit dem Träger. Das Mobiltelefon ist per Bluetooth mit dem Genius verbunden. Bei einem Elektrounfall, der durch einen Spannungsabfall zwischen den Messpunkten am Oberarm angezeigt wird, oder Sturz, was ein integrierter Beschleunigungssensor erkennt, wird dies vom Genius sofort an das Mobiltelefon weitergegeben. Die App kann dann einen Notruf an betriebsinterne Helfer oder an eine externe Notrufzentrale absetzen.“
Vereinfacht formuliert erkennt „Angel“, wenn Strom über den Körper fließt. „Wir messen den Spannungsabfall und schließen aufgrund unserer Kenntnis über Körperinnenwiderstände auf den Strom zurück, der durch den Körper fließt“, erläutert Nicole Burtscher. „Zukünftig soll noch eine Art Not-Aus-System per Funk mit dem System verbunden sein, um Spannungsquellen bei einem Unfall automatisch abzuschalten. Auch die Integration eines Totmannsensors für Bewegungslosigkeit und weitere Funktionalitäten sind denkbar“, sind die Entwicklungen an dem System noch lange nicht abgeschlossen.
Inspiration von einer Kreissäge erhalten
Die entscheidende Inspiration für dieses System erhielten die Entwickler von Adresys durch das Video zu einer Kreissäge. „Die Säge hat automatisch erkannt, wenn eine Hand an das Sägeblatt kommt und blitzschnell abgeschaltet. Das wollten wir auch mit Strom hinbekommen“, sagt Nicole Burtscher.
So funktioniert auch „Angel“. Sind zum Beispiel zwei Mitarbeiter eines Elektroinstallationsunternehmen unterwegs, doch jeder erledigt seine eigenen Aufgaben. Der eine Mitarbeiter hat einen Elektrounfall beispielsweise an einem Schaltschrank oder bei einer Herdinstallation, so wird der zweite Mitarbeiter über die „Angel“-App direkt alarmiert. Zudem piepst die Elektronik lautstark. Dadurch, dass der Kollege schnell auf den Unfall aufmerksam gemacht wird und schnell helfen kann, wird auch das Gesundheitsrisiko minimiert. So wird „Angel“ seitens Adresys auch gerne als „Airbag für Menschen, die mit Strom in Berührung kommen“, bezeichnet.
Späte Folgen eines Elektrounfalls
Auch wenn auf den ersten Blick die oben genannten Zahlen Elektrounfälle als nicht sonderlich häufig und gefährlich darstellen, gibt es eine gewaltige „Dunkelziffer“, wie Nicole Burtscher erklärt. Denn die wenigsten Elektrounfälle wie beispielsweise ein vermeintlich harmloser Stromschlag durch die Steckdose werden gemeldet. Doch sind Körperflüssigkeiten ein hervorragender Leiter für Strom, und auch die menschlichen Organe werden durch leichte elektrische Impulse angetrieben. Gelangt nun Strom in den Körper, kann das den normalen Rhythmus des Herzens stören und im schlimmsten Fall zu gefährlichem Herzflimmern führen. Auch Lungenversagen, Gehirnversagen oder eine Blutvergiftung sind mögliche Folgen eines Stromschlags. Die meisten dieser Symptome treten aber mit einer deutlichen zeitlichen Verzögerung auf, teilweise erst Tage später, und werden dann dem unter Umständen gar nicht gemeldeten Elektrounfall überhaupt nicht zugeordnet.
Eine besondere Herausforderung für das Unternehmen ist es auch, die textilen Materialien mit der Elektronik praktisch, komfortabel und dennoch effektiv und zielführend zusammenzufügen. Schließlich hatte man seitens Adresys, wo man sich bisher als Team von Hard- und Software-Entwicklern für den Elektrobereich definiert hat, zuvor mit Textilien nichts zu tun. Derzeit laufen noch die Auswertungen der gerade erst beendeten Feldstudien, sodass mit einer Markteinführung von „Angel“ für Juli 2021 geplant wird
INFO
Adresys steht für Adaptive Regelsysteme und ist eine Tochter von Omnicron Electronics. Dort werden kompakte Testgeräte für die Prüfung von Schutz- und Messeinrichtungen in elektrischen Energiesystemen entwickelt. Adresys betrachtet mit seinen 16 Mitarbeitern die Anwenderseite und versucht, die Arbeit mit gefährlicher elektrischer Spannung noch sicherer zu machen. Mit „Angel“ hat das Unternehmen den ersten Schritt in den Markt für intelligente Textilsysteme gemacht.