Nur wenige Kilometer vom Bottnischen Meerbusen in Richtung des Landesinneren Finnlands liegt die kleine Gemeinde Sievi. Sie verfügt mit den zehn dazugehörigen verstreut im Umland liegenden Ortschaften noch nicht einmal über 5.000 Einwohner. Doch ist Sievi seit Jahrzehnten der Stammsitz der größten Schuh-Manufaktur in Nord-Europa. Die Redaktion war zu Gast in der Ortschaft und der Schuhmanufaktur Sievi.
Keine sieben Einwohner je Quadratkilometer (zum Vergleich: in Hannover sind es knapp 2.700 je qkm) zählt die kleine Gemeinde unweit der sogenannten „finnischen Riviera“, wie dieser Bereich der Ostseeküste liebevoll genannt wird. Ortschaften erkennt man häufig nur anhand des Ortseingangsschilds, eine intensive Bebauung gibt es hier nicht. Und so führt die Straße zur größten Schuhmanufaktur in Nord-Europa auch durch einen lichten Mischwald, der von einem hohen Kiefern-Aufkommen geprägt wird, bis plötzlich nach einer Kurve eine Art kleines Gewerbegebiet auftaucht – der Stammsitz von Sievi in Sievi.
Über 200 verschiedene Modelle
Wobei das Unternehmen offiziell Sievin Jalkine Oy heißt, das „n“ dabei allerdings so etwas wie das bei uns häufig angehängte grammatikalische „s“ ist. „Hier wird der komplette Schuh produziert, inklusive dem Schaft“, betont Teppo Kemppainen, Sales Director im Unternehmen. Insgesamt sind es rund 550 Mitarbeiter, die in Sievi und dem knapp 50 Kilometer entfernten Oulainen über eine Millionen Paar Schuhe pro Jahr fertigen. „Rund die Hälfte davon wird exportiert“, so Kemppainen.
Dabei führt das Unternehmen über 200 verschiedene Modelle. Neben den im zentraleuropäischen Markt etablierten Arbeitsschutz- und Sicherheitsschuhen sind das besonders auch Schuhe und Winterschuhe für den heimischen Markt. Insgesamt arbeiten am Stammsitz in Sievi rund 300 Mitarbeiter für den Schuhhersteller. „Aber hier im Ort selber leben nur rund 500 Menschen, da ist es oft nicht leicht, neue Mitarbeiter oder gar Fachkräfte zu finden“, berichtet Kemppainen. Damit bei plötzlicher unerwartet hoher Nachfrage die Lieferfähigkeit gegeben ist, ohne dass die Mitarbeiter quasi rund um die Uhr arbeiten müssen, hat Sievi ein umfangreiches Lager. „Hier liegen 150.000 Paar Schuhe bereit“, so Kemppainen, „eine schnelle Lieferung ist somit jederzeit garantiert.“
Drei neue Kollektionen pro Jahr
Die Produktpalette wächst dabei kontinuierlich. „Im Schnitt bringen wir drei neue Kollektionen pro Jahr auf den Markt“, verrät Marko Ilola, Leiter der Produktentwicklung, „eine für den Professional und zwei im Casual Bereich.“ Das bedeutet allein für den Professional Bereich fünf bis zehn neue Schuhmodelle, „für Business und Casual können das schon einmal rund 100 neue Schuhmodelle in einem Jahr werden“, so Ilola. Wobei diese letztgenannten Schuhmodele nicht ausschließlich für den heimischen Markt sind. „Einige dieser Modelle sind auch in Form von Berufsschuhen auf dem deutschen Markt zu bekommen“, ergänzt Gisbert Thelemann, Geschäftsführer Sievi Deutschland.
Beim Gang durch die Manufaktur in Sievi wird einmal mehr deutlich, wieviel Handarbeit auch heutzutage noch in der Herstellung qualitativ hochwertiger Schuhe steckt. So wird das zu einem Großteil aus Italien gelieferte Leder akkurat auf Fehler oder Mängel geprüft, bevor es verarbeitet wird oder in dem großen Hochregallager für Rohmaterialien eingelagert wird. 1200 Palettenstellplätze sind hier angebracht. „Das gibt uns eine hohe Produktionssicherheit, wenn die Zulieferer aus irgendwelchen Gründen nicht liefern können“, sagt Kemppainen. Das vorrätige Material würde jedenfalls genügen, um bis zu vier Monate die Produktion zu sichern, betont Kemppainen mit Blick auf das gut
20 Meter hohe, erst vor zwei Jahren in Betrieb genommene Hochregallager.
Rund 100 Näher fertigen die Schäfte
Ein weiterer großer Vorteil der vielen Handarbeit ist die Flexibilität in der Produktion. „Wir sind der flexibelste Hersteller“, behauptet Kemppainen selbstbewusst, „wir können bei Bedarf immer ein Produkt zwischenschieben.“ Bei maschineller Produktion verlasse sich ein Hersteller üblicherweise auf zwei, vielleicht drei Produktionsstraßen, sprich zwei, drei Modelle werden parallel gefertigt. Doch dadurch, dass hier bei Sievi rund 100 Näher an den Maschinen sitzen, um die verschiedensten Schäfte in Handarbeit zu fertigen, „können hier 100 verschiedene Modelle gleichzeitig produziert werden.“ Somit ist es für Sievi kein Problem, auch recht kleine Losgrößen zu produzieren. „Zehn Paar ist die kleinste Losgröße, die wir fertigen“, sagt er.
Auf 80 bis 90 verschiedene Produktionsschritte beziffert Kemppainen die Anzahl der einzelnen Etappen, die ein Schuh in der Herstellung bewältigt, bis er versandfertig verpackt ist. „Da sind viele kleine Arbeitsschritte enthalten, das kann Technik so gar nicht leisten“, wird hier der Facharbeiter sehr wertgeschätzt. Zwar nutzen die Mitarbeiter technische Hilfen wie Pressen zum Ausstanzen der Lederstücke oder eben eine große Bandbreite unterschiedlichster Nähmaschinen, doch letztlich führt der einzelne Mitarbeiter die Tätigkeit aus. Etwas anders ist das bei den fünf großen Maschinen für die Besohlung. Hier müssen die Mitarbeiter quasi die Maschinen bestücken, das Einspritzen der Sohlen passiert dann programmiert und automatisch. „Wir setzen soweit möglich auf das Einspritzverfahren, weil dies einfach eine bessere Qualität bietet als eine geklebte Sohle“, so Kemppainen.
Fokus liegt auf Gummistiefeln
Im zweiten Werk in Oulainen, das seit gut 25 Jahren betrieben wird, liegt der Fokus klar auf der Produktion von Gummistiefeln. Aber es werden auch einzelne Sohlen hergestellt, nämlich alle, die nicht per Einspritzverfahren produziert werden können. Unter anderem wird in Oulainen die Traction Pro Sohle gebacken, die auch auf glatten Böden sicheren Halt bietet. Mit der im eigenen Haus entwickelten Flex Step Zwischenschicht zeigt sich diese gegossene Sohle nicht nur sehr elastisch, sondern das scharfkantige Profil maximiert den Reibungswiderstand und sorgt so für sicheren Grip auf rutschigem Geläuf. „Neben den Stiefeln und Sohlen ist der dritte Schwerpunkt bei uns in Oulainen die Veredlung“, sagt Betriebsleiter Jari Peräaho.
Die eingeladenen Fachhändler waren jedenfalls allesamt begeistert. Klar, Sievi-Partner in Deutschland und Österreich sind alle schon lange, kennen die Produkte also, aber solch einen intensiven Einblick in das Unternehmen hatte noch keiner. Keno Reich von Krabbe-Work fand den Input „sehr spannend und interessant. Da sieht man einmal ganz deutlich, dass hinter einem solchen Schuh viel mehr steckt, als die meisten Leute denken.“ Thomas Kreischer vom gleichnamigen österreichischen Händler war zum einen sehr begeistert von der immer noch ausgeübten traditionellen Handwerkskunst und „schön, dass hier nichts in Übersee produziert wird.“
Qualitätsmerkmal „Made in Finland“
„Es ist echt beeindruckend, was da noch an Handwerk und Handarbeit hinter steckt“, sagte auch Lydia Böhme von Fachhändler Engelhardt in Grimma. „Das macht noch einmal deutlich, welche Qualität in dem Produkt steckt.“ „Man lernt den Wert dieser Produkte deutlich mehr zu schätzen, bekommt einen ganz anderen Blick auf die Schuhe“, bestätigte auch Timo Karabetsos vom Snickers Concept Store. „Es wird deutlich, dass ,made in Finland´ ein Qualitätsmerkmal ist.“
Auch einen kleinen Blick auf die Zukunftspläne von Sievi für Kunden und Verbraucher gewährte Kemppainen. So bleibt einmal das Thema Nachhaltigkeit sehr wichtig und soll weiter gestärkt werden. Zudem arbeitet das Unternehmen an einer neuen E-Commerce-Plattform für den B2B-Bereich, der die Zusammenarbeit mit dem Handel noch einfacher und komfortabler gestalten soll. In der Entwicklungsabteilung will man auch auf maßgeschneiderte Produkte für ganz spezielle Zielgruppen setzen, „zum Beispiel für Arbeiter im Bereich Windenergie“, nennt der Verkaufsleiter ein wachsende Berufsgruppe. „Letztlich soll am Ende die Marke gestärkt werden – sowohl durch Leistung als auch durch Investment.“
So lautet die oberste Prämisse des Unternehmens, die Marktführerschaft durch das Stärken der Marke und der Marktposition aufrecht zu erhalten – oder auch auszubauen. Insofern gilt es „bei den Produkten die Vorreiterrolle insbesondere in Sachen Innovation zu behaupten“, so Kemppainen, „und Engagement für die Entwicklung noch leichterer und sicherer Schuhe von Sievi zu investieren.“
Von Camillo F. Kluge